Konstanze Fliedl – Literaturkritikerin und Philologin
Eine Laudatio von Wolfram Groddeck
Verehrte Anwesende,
ich habe das Glück, mit Frau Universitäts-Professorin Magistra Doktorin Konstanze Fliedl, die wir mit der heutigen Feier ehren wollen, nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten in einem regelmäßigen, wissenschaftlichen Austausch zu stehen. Dabei habe ich mich fachlich und intellektuell, aber auch menschlich stets bereichert gefühlt. Es möge mir gestattet sein, sie im Folgenden bei ihrem Vornamen Konstanze zu nennen, zum einen, weil wir nun schon so lange befreundet sind und zum andern, weil der Name „Konstanze“ ja „die Beständige“, „die Beharrliche“ oder auch „die Charakterfeste“ bedeutet. Und ich möchte nun darlegen, wie sehr sie ihrem Namen Ehre gemacht hat.
Konstanze ist Literaturwissenschaftlerin in einem emphatischen und umfassenden Sinne. Ich kenne keinen Menschen, der so viel gelesen hat wie Konstanze. Viel gelesen – das möchte ich gleich mit der berühmten Sentenz von Plinius dem Jüngeren präzisieren: „Aiunt multum legendum esse, non multa.“ Also: man sollte viel und intensiv lesen, aber nicht wahllos vielerlei. Die Disziplin und Kunstfertigkeit des anhaltend konzentrierten Lesens, um die ich Konstanze stets beneidet habe, führt schließlich zu einer Kunst des Lesens, die in ihrem Werk und ihrem Wirken vielfältige Früchte getragen hat.
Wenn ich sage, Konstanze sei eine Literaturwissenschaftlerin im emphatischen und umfassenden Sinne, so meine ich, dass sie in ihrer Arbeit zwei Aspekte der Literaturwissenschaft vereint: Sie ist sowohl Literaturkritikerin als auch Philologin. Das ist ein Gegensatz, der heute noch in Frankreich ein unaufhebbarer, ja fast feindlicher zu sein scheint: „critique“ bezeichnet die geistreiche Auseinandersetzung mit Literatur, „philologie“ das verstaubte, archivarische Kleben am Textobjekt (ein ungeliebtes Erbe übrigens des deutsch-französischen Krieges). Aber auch in der germanistischen Literaturwissenschaft an den deutschsprachigen Universitäten haben Methodenkritik und Kulturwissenschaft inzwischen längst die Herkunft aus der philologischen Disziplin überwunden oder sagen wir besser: verdrängt.
Als ich Konstanze 1999 kennenlernte, hatte sie gerade – das habe ich aber erst später erfahren – den renommierten „Staatspreis für Literaturkritik“ erhalten, den die Republik Österreich für herausragende Leistungen im Bereich der Literaturkritik verleiht. Sie war inzwischen promovierte und habilitierte Germanistin – dazu später mehr – und alleinerziehende Mutter eines damals 20-jährigen Sohnes. Sie war (und ist) sehr aktiv in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Belletristik. Nicht nur schrieb (und schreibt) sie zahllose Rezensionen zur Gegenwartsliteratur, sie war (und ist) auch als Jurorin tätig. Mehrmals war sie Teil der Jury des berühmten Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Preises oder ganz aktuell in diesem Jahr wieder beim Meraner Lyrik-Preis. Aber auch in anderen Literatur-Jurys, die weniger bekannt sind, ist Konstanze immer wieder aktiv. Und das bedeutet auch viel Arbeit – viel Lesen. Es handelt sich dabei um eine Arbeit mehr im Hintergrund, oftmals fast im Verborgenen. Es ist eine Tätigkeit, die der Förderung der Talente von anderen dient – und darin zeigt sich ein liebenswerter Charakterzug von Konstanze: Sie nimmt sich zurück, um andere zu fördern. Ja, ihr literaturkritisches Wirken hat manchmal auch fast etwas Mütterliches. Oft, aber keineswegs stur und ausschließlich, fördert und unterstützt sie Frauen. Wäre ich eine Feministin, würde ich sagen, dass dieser so sympathische Charakterzug mit ihren leidvollen Erfahrungen als Frau im universitären Kontext des 20. Jahrhunderts zu tun hat. Der Weg von der begabten Studentin zur Assistentin und zur Privatdozentin, dann zur Professorin in Salzburg und später zur Professorin in Wien und schließlich zur Wahl als „Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ war steinig und nicht selten von bitteren Erlebnissen flankiert. Manches davon habe ich in Gesprächen mit Konstanze erfahren; aber ich will das heute, da es ja nicht um eine politische Rede, sondern um eine Laudatio geht, nicht weiter vertiefen.
Es wäre zu einfach, zu behaupten, dass die literaturkritische Tätigkeit nur die eine Seite von Konstanzes Wirken sei. Vielmehr ist diese eng mit ihrem fachgermanistischen, philologischen Profil verbunden, ja sie ist vielleicht direkt daraus entstanden.
Aber nun der Reihe nach: Sie hat in Wien Deutsche Philologie, Kunstgeschichte und Theologie studiert. 1983 wurde sie in Deutscher Philologie promoviert. Von den verschiedenen Auslandsaufenthalten möchte ich, da er auch für unsere Jubilarin anscheinend ein sehr wichtiger war, den Aufenthalt 1989/90 in Cambridge hervorheben, der durch den FWF, den „Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ ermöglicht wurde, und zwar im „Erwin Schrödinger-Programm“ – Sie erinnern sich: das ist der mit der Katze…
Es folgten Forschungsaufenthalte in Harvard und Yale und die Habilitation zu Arthur Schnitzler mit einer umfangreichen und bedeutenden Arbeit, die 1997 unter dem Titel „Poetik der Erinnerung“ publiziert wurde. Damit war auch ein Thema gesetzt, dass die weitere wissenschaftliche Arbeit von Konstanze nachhaltig bestimmte. 1999 wurde sie Vorsitzende der Arthur Schnitzler-Gesellschaft. Und immer wieder hat sie zu Schnitzler publiziert – oder auch publizieren müssen. Sie ist heute die wichtigste Expertin für das Werk Schnitzlers und eine der Wenigen, die seine Handschrift – eine Ärztehandschrift wohlbemerkt – lesen können. Ich bin fast versucht, zu sagen, Schnitzler ist Konstanzes Schicksal geworden. Ich komme nachher nochmal darauf zurück.
Aber dennoch hat sie daneben, neben Schnitzler, noch weitere Tätigkeitsfelder bestellt. Ich habe ja schon kurz erwähnt, dass Konstanze außer deutscher Philologie auch Kunstgeschichte studiert hat. Irgendwann entwickelte sich daraus ein Projekt, in dem sich Kunstgeschichte und Literaturgeschichte verbinden. So der Sammelband von 2005, „Kunst im Text“, mit Aufsätzen verschiedener Autoren, die sich mit literarischen Texten befasst haben, welche sich auf Kunstobjekte beziehen. Das Thema ‚bildende Kunst in der Literatur‘ fasziniert Konstanze bis heute; 2011 hat sie zusammen mit ihren Schülerinnen Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf das zweibändige „Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne“ herausgegeben. In seiner Art ist das ein im Grunde innovatives Konzept. Ein weiteres Projekt dieser Art unter Konstanzes Leitung war das FWF-Forschungsprojekt „Das Bildzitat“ (2009–2014).
Konstanze hat zahlreiche Herausgaben verschiedener Autorinnen und Autoren verantwortet, öfter auch in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. So z.B. mit Christa Gürtler zu Andreas Okopenko und zu Elfriede Gerstl, einer Autorin, von der man sagen darf, dass sie von Konstanze liebevoll betreut wurde. Unvergesslich ist mir ein gemeinsamer Besuch bei Elfriede Gerstl in ihrem Antiquitäten- oder eher Trödelladen. Das war vor bald 20 Jahren, und Frau Gerstl hat uns einen kleinen roten Schal geschenkt. Den hat jetzt, glaube ich, Konstanze bei sich.
Neben Sammlungen zeitgenössischer und österreichischer Literatur, so etwa die beiden Bände bei DTV: „Österreichische Erzählerinnen seit 1945“ und „Das andere Österreich“ hat sie auch bei Reclam mehrere philologisch seriöse Leseausgaben von Werken Joseph Roths und Arthur Schnitzlers herausgegeben.
Arthur Schnitzler, sagte ich, ist ihr zum Schicksal geworden. Das fing früh an, mit der Mitarbeit an den 1989 erschienenen Tagebüchern Schnitzlers. Hier lernte sie seine unleserliche Handschrift entziffern. 1992 edierte sie den Briefwechsel Schnitzlers mit Beer-Hofmann, 1995 den Roman „Der Weg ins Freie“; beides noch vor ihrer Habilitation zu Schnitzler. All das stellt sich rückblickend als Vorbereitung zu der großen Historisch-Kritischen Ausgabe von Arthur Schnitzlers Frühwerk dar, die Konstanze mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seit 2011 herausgibt. Inzwischen sind unter ihrer Leitung über ein Dutzend Einzelbände erschienen, jeder ein Meisterwerk präzisester Editionsphilologie.
Konstanzes Leidenschaft für Handschriften gehört zu den Dingen, die uns beide verbunden haben. Wobei ich einräumen muss, dass ihre Entzifferungs-Kompetenz singulär ist. Ich erinnere mich, wie wir einmal vor Jahren das Georg Trakl-Haus in Salzburg besucht haben und ich mich ratlos in eine handschriftliche Notiz Trakls versenkte – bis mir Konstanze über die Schulter sah und die Notiz dann sozusagen prima vista vorgelesen hat. Da hat auch die Leiterin des Hauses, die uns durch die Gedenkstätte führte, nicht schlecht gestaunt.
Über die Problematik aufwendiger historisch-kritischer Editionen mit all den organisatorischen Schwierigkeiten und auch den Legitimitätszweifeln, die sich dabei sporadisch ergeben, haben wir beide viel diskutiert; auch über den medialen Wandel von Buch-Edition zur Online-Edition bis hin zum Open Access haben wir uns gegenseitig schlau gemacht und getröstet. Als kürzlich die unter ihrer Leitung entstandene und von Bernhard Oberreither herausgegebene Online-Edition der „Dritten Walpurgisnacht“ von Karl Kraus freigeschaltet werden konnte, war Konstanze dann doch sehr zufrieden. Zu Recht.
Konstanze ist aber auch – das konnte ich immer wieder beobachten – eine begeisterte und begeisternde Lehrerin. Sie absolvierte bis zur Emeritierung ein immenses Programm an Lehrveranstaltungen über ein breites Spektrum von Inhalten. 2013 erhielt sie verdientermaßen den „Teaching Award der Universität Wien“ und im selben Jahr auch den österreichischen „Ars Docendi-Staatspreis für exzellente Lehre“. Die Einheit von Lehre und Forschung, die ja heute in manchen Konzepten einer neuen Universität keinen Platz und keine Bedeutung mehr haben soll, ist für Konstanze unverzichtbar. Sie sagte einmal, dass die Forschung letztlich etwas Einsames sei; beim Lehren hingegen könne man – ich zitiere sie – „miteinander gescheiter werden“. Das war bisher auch ein bisschen das Projekt unser beider Freundschaft.
Konstanze hat mir einmal berichtet – und damit will ich schließen – wie sie (ich glaube, es war an der Kasse eines Supermarkts) von einer Dame angesprochen wurde, die sich als ehemalige Studentin zu erkennen gab und zu ihr sagte: „Sie waren meine Lieblingsprofessorin – bei Ihnen habe ich lesen gelernt“.
Darauf war Konstanze, als sie es mir erzählt hat, so stolz.