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Kritische Rezeptionsedition – Vorbemerkung

Das Konzept einer Textrezeptionsedition kann in der hier unterbreiteten Form noch auf keine nennenswerte Forschungstradition verweisen. Während im eng benachbarten Gebiet der Nachlassforschung handschriftliche Anmerkungen und Unterstreichungen etwa in den Handbibliotheken jeweils beforschter Autor:innen intensiv studiert wurden, sind Anstrengungen in die entgegengesetzte Richtung bisher unterblieben: Hervorhebungen, Randnotizen und ähnliches in den Werken eines Autors, einer Autorin zu untersuchen, die angebracht wurden von ihren vielen, zumeist anonymen Rezipient:innen, in den zahllosen öffentlich zugänglichen Exemplaren dieser Werke in Bibliotheken und Büchereien. Der Erforschung der Rezeption des Textes trägt dieses Interesse ebenso Rechnung wie der Demokratisierung der Forschungslandschaft im Sinne des Aufzeigens bisher unterrepräsentierter Teilhabe am Text.

Dieses Forschungsgebiet teilt sich, soweit man im Falle von etwas noch nicht Existierendem davon sprechen kann, in zwei Teilbereiche: Besonderer Zulauf ist angesichts der aktuellen Forschungslandschaft für den quantitativ-statistischen Bereich zu erwarten. Hier werden die unterstrichenen, kommentierten etc. Passagen in möglichst vielen Exemplaren des betreffenden Textes erhoben und können so, als positiv vorliegende Rezeptionsbelege, nicht nur die Wirkmächtigkeit des Textes, sondern auch die relative Wichtigkeit einzelner Passagen messbar und damit endgültig feststellbar machen.
Wie sich dieses Erkenntnisinteresse mit dem im Universitätsalltag bewährten Diktum, Unterstreichen sei das Gegenteil von Lesen, in Einklang bringen lässt, ist eine andere Frage. Ohnehin gelten unsere Anstrengungen dem zweiten Teilbereich des Fachgebiets: einem close reading einzelner Exemplare und der in ihnen angebrachten Annotationen, und im Zuge dessen der Erhebung neuer Sinnschichten aus dem annotierten Text.
Die Prämisse zu diesem Vorhaben lautet, dass in diesen Markierungen die Performanz des Lesens nachvollziehbar wird als ein Akt der Gewinnung und zugleich Einschreibung von Bedeutung, ein Akt, der sich dabei selbst transparent hält. Die Unterstreichung markiert den Text, zugleich die unhintergehbare Differenz zu ihm. Sie macht die Distanz zwischen Leser:in und Text kenntlich – ihr Nachvollzug folglich den Text als Palimpsest; jeder Kommentar führt Absorption und Transformation des Textes durch,1 jede Markierung führt zur nächsten und immer nächsten Spaltung des geschlossenen Text-Sinns, unterwandert rhizomatisch dessen Hierarchien.2
Lesbar werden so aber nicht nur der Text und seine Markierungen als parallele und ineinanderlaufende Sinnschichten, zugleich treten auch Gesichtspunkte der Annotations-Produktion in den Vordergrund: darunter nicht zuletzt die schwierige historische Einordnung des jeweiligen Annotats (für das als terminus post quem meist nur das Erscheinungsdatum des Textes gelten kann), ebenso die stets prekäre, da durch Bibliotheksordnungen untersagte Anbringung dieser Annotationen und damit in Zusammenhang die berechtigte Frage nach regionalen Unterschieden, was Motivation, Umfang und – ja, Leichtfertigkeit solcher Annotationen betrifft. Ist etwa ein Smiley am Seitenrand, wie es die lockeren Berliner Gepflogenheiten erlauben oder gar nahelegen, in den heiligen Hallen der Wiener Fachbereichsbibliothek überhaupt denkbar? Oder entspricht diesen vielmehr, wenn überhaupt, noch der Gestus eines am Rand festgehaltenen „Adorno!” (siehe dazu die jeweiligen Beiträge auf den folgenden Seiten)?
Lesbar wird also – neben den durch die Annotation eröffneten/eingeschriebenen Sinnschichten – die Unterstreich-Szene.3 Auch ihr gilt unsere Aufmerksamkeit: dem sich aus dem Nachvollzug der hinterlassenen Spuren ergebenden Schauspiel der Lektüre, dem intimen Regelkreis von Lesen-Denken-Anstreichen, der Selbstentblößung in der Marginalie.


1 Vgl. Julia Kristeva: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin. In: Literaturwissenschaft und Linguistik 3. Hg. v. Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375.
2 Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Rhizom. Berlin 1977.
3 Vgl. zu dieser Begriffsbildung Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1991, S. 759−772.