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Fliedl lesen (und erinnern) … in Berlin

Zweigbibliothek für Germanistik/Skandinavistik, Humboldt-Universität zu Berlin

Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler: Poetik der Erinnerung. Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 1997 (= Literatur und Geschichte, Literatur in der Geschichte 42).
Exemplar: Humboldt-Universität zu Berlin, Zweigbibliothek für Germanistik/Skandinavistik, Signatur: GM 5518 F621

Von buchstäblich symbolistischer Hermetik sind manche Lektürespuren, die sich im Exemplar von Konstanze Fliedls Habilitation aus der Germanistikbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin finden: Schwer vorstellbar, dass das Pentagramm neben einer Passage über die ‚Frauenfrage‘ und Frauenfiguren in Schnitzlers Werk (Seite 139) auf satanistischen Gebrauch schließen lässt. Aber worauf sonst? Was bedeutet nur eine Seite weiter ein Smiley neben einer Stelle über den Zusammenhang von Erinnerung und Tugend ‚der Frau‘? Hat hier jemand im kommunikativen Eifer eine 1100 Gramm schwere Qualifikationsschrift mit einem Handy verwechselt und gehofft, auf diese Weise mit der Verfasserin in Kontakt treten zu können?
Leichter erschließt sich da schon (scheinbar), dass auf Seite 21 gerade die Feststellung angestrichen ist, dass der ‚impressionistische Mensch‘, der in Arthur Schnitzlers Werk so oft vorgefunden wurde, „weiß, männlich und bürgerlich“ sei (s. Abb. 1). Immerhin wird Berlin – vor allem von Nicht- und Neo-Berliner:innen – als Mekka der deutschsprachigen Wokeness gesehen. Insofern würde die Markierung deutlich machen, dass dasselbe, was für gute Literatur gilt, auch für gute Literaturwissenschaft stimmt: Sie ist zeitlos, ja, beweist eine „antizipatorische Qualität“ (wie Fliedl später über Schnitzlers Texte schreibt), was Themen betrifft, die gesellschaftlich erst noch durchschlagen müssen.

Abb. 1: Die Habilitationsschrift in der Fachbibliothek Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 21

Was aber bedeutet es, dass der/die Notator:in genau neben diese Stelle kein kluges Aperçu, sondern einfach „haha“ setzte? Ein Kommentar zu Alter und Persistenz scheinbar neu erkannter Probleme? Reines Amusement über die (angenommene) Zufälligkeit der Ähnlichkeit von hippem Thema und über hundertjährigem Text? Oder doch bitter-ironisches Von-sich-Weisen eines angeblich ubiquitären Unterhöhlungseifers guter alter Ordnungen und Werte? Auf Letzteres deutet zumindest die Anmerkung auf Seite 30 hin: Neben dem unterstrichenen Satz: „Das Motiv für Schnitzlers Beharrlichkeit, Kunst auf Wahrheit zu verpflichten, stammt vielmehr aus den Alltagserfahrungen, die er als Kunstproduzent zu machen gezwungen war“, steht da (in dieser Orthographie): „oh wie Schlimm!“ Als ob Konstanze Fliedl hier (diese Form der) Alltagserfahrungen als einem Künstler wie Schnitzler nicht angemessen empfände, oder umgekehrt ihn gar ästhetisch wie moralisch diskreditieren wollte, weil er sein Werk ,bloß‘ aus derartigen Erfahrungen schöpfe. Mehr Gewicht noch bekommt die Vermutung auf Seite 41: „Heute ist Arthur Schnitzler gewiß kein Autor, an den man erinnern müßte“, heißt es da; und daneben: „an Fr. Fliedl aber auch nicht!“ Das ist so falsch wie bösartig – allerdings nur, wenn man den Kontext außer Acht lässt. Denn, dass man an Schnitzler nicht erinnern muss, liegt ja an seinem gut begründeten Ruhm. Ganz unfreiwillig hat also der anonyme Leser (hier sei das Masculinum suspicionis erlaubt) mit der Formulierung auch die Argumentation übernommen und auf die Verfasserin selbst angewendet. Dem kann man sich nur anschließen. Er (wenn nicht ein:e hellsichtige:r Nachleser:in) hat den Kommentar dann zwar wieder auszuradieren versucht, ohne freilich die verräterischen Spuren ganz beseitigen zu können: So ist in die Poetik der Erinnerung jetzt triftigerweise ein kleiner Konstanze-Fliedl-Wunderblock eingelassen.

Abb. 2: Die Habilitationsschrift in der Fachbibliothek Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 41.