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Exzess und Askese

FB Germanistik, Universität Wien

Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler: Poetik der Erinnerung. Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 1997 (= Literatur und Geschichte, Literatur in der Geschichte 42).
Exemplar: FB Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik, Universität Wien, Signatur: L XX Schnitz. 1

Der Buchrücken des Exemplars von Poetik der Erinnerung in der Fachbereichsbibliothek Germanistik (Universität Wien) löst sich bereits vom Deckel, nur noch lose hält der Einband zusammen. Was das Äußere bereits andeutet, bestätigt der erste Blick ins Innere: der Band bot Anlass für intensive Lektüren, die Annotationen lassen eine fiebrige Auseinandersetzung erkennen.
Charakteristisch hier die Zusammenfassung zum Kapitel Fünf zur Kunst als Ware. Sterne, Pfeile, Kreuzchen und Linien müssen den Rezipient:innen durch den dichten Text helfen, selbst die Seitenzahl wird umkreist – der letzte Halt einer stürmischen Lektüre. Die Unterstreichungen werden mehrheitlich mit Lineal und Nachdruck vorgenommen. Doch löst sich die philologische Strenge gegen Ende der Seite auf und weicht Kringeln, Wellen und Freihand-Linien in unterschiedlichen Stärken. Am Rand finden sich zwei gänzlich konträre Vermerke: Während „Schnitzlers Kunstprogramm“ wohl der Orientierung dient, bleibt unklar, ob der Anlass für das heftig proklamierte „Adorno!“ Zustimmung, Erstaunen oder Irritation ist.

Abb. 1: Die Habilitationsschrift von 1997 in der Fachbereichsbibliothek Germanistik, Universität Wien, S. 32.

Die Vielzahl an Markierungen und die Pluralität verwendeter Stilmittel zeugen eindrucksvoll vom Exzess der Lektüre. Und doch: Auf Utensilien wie Textmarker in Neongelb oder -pink wird verzichtet, stattdessen einheitlich – selbst bei Hervorhebung längerer Passagen – ein Bleistift verwendet. Diese Konsequenz muss zum einen als Versuch verstanden werden, eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten. Zum andern redet diese Praxis des reversiblen Annotierens einer Schüchternheit das Wort – gegenüber dem Text ebenso wie gegenüber dem Bibliotheks-Exemplar. Leidenschaftlichkeit steht hier dem aus der Annotationstheorie bekannten asketischen Ideal entgegen, das insbesondere die Lektüre gemeinschaftlich genutzter Bibliotheksbücher begleitet.
Inspiration und Strenge, Exzess und Askese fungieren damit als Grundpfeiler der Rezeption dieses Exemplars der Poetik der Erinnerung. Die Forschung der kommenden Jahre wird herausfinden müssen, ob der Befund für alle Publikationen Fliedls in der Germanistik-Bibliothek – und darüber hinaus – gelten kann.