Andrea Berger
Die Liebe zum Text, zum Theater und zur Wissenschaft
„Merkt ihr denn nicht, dass ihr uns im Weg steht – dass ihr uns seit Jahrtausenden im Weg steht?“ Es ist ein Kichermoment im Burgtheater, als Marie-Luise Stockinger ihre vier männlichen Mitspieler in die Schranken weist, die sich vor sie und ihre beiden Kolleginnen an die Rampe drängen. Zugleich ist es auch einer dieser Momente am Theater, die ich so mag: einer, in dem sich eine Aussage so glasklar manifestiert in Text, Bild und Intonation, dass ich unwillkürlich mit dem Kopf nicken und meiner Sitznachbarin davon erzählen möchte.
Allerdings bin ich alleine in der Premiere von „Zdeněk Adamec“ von Peter Handke in der Regie von Frank Castorf. Das war so nicht geplant: Eigentlich hätte auf dem Platz neben mir Prof. Konstanze Fliedl sitzen sollen. Ich hatte mir gewünscht, nach meiner digitalen Masterprüfung im Juli 2020 mein Prüferinnenteam – Prof. Fliedl, Prof. Brigitte Marschall und Dr. Susanne Hochreiter – im analogen Raum für einen weiteren Austausch wiederzusehen, und zwar bei dieser Premiere. Daraus ist aufgrund der COVID-19-Pandemie nichts geworden. Und dennoch ist die Situation, sogar aus einer Prüfung inspiriert herauszukommen, eine, die ich ganz stark mit Prof. Fliedl verbinde. Jeder Besprechungstermin mit ihr funktionierte so, jedes Seminar, jede Aufgabenstellung. Als sehr gute Wissenschaftlerin, genaue Beobachterin und außergewöhnlich begabte Lehrende hatte sie nicht nur die Fähigkeit, Studierende für den Stoff zu begeistern, sondern auch, sie zu Höchstleistungen zu motivieren. Ihre Liebe zum Theater war dabei besonders auffällig – nicht nur in der Wahl ihrer Themen, sondern auch in der Art und Weise, wie sie über Stücke und Inszenierungen sprach. Immer präsent war ihr Engagement für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Literatur, das sich sowohl in Literaturlisten als auch in Schwerpunktsetzungen niederschlug. Ihre Analysen waren auf dem Punkt und dabei von einer großen Offenheit für neue Ideen geprägt. In ihren Lehrveranstaltungen war Platz für jede These – solange sie gut begründet war. Ihre Ansprüche waren hoch, das war bekannt. Wer es nicht ernst meinte mit der wissenschaftlichen Arbeit, suchte sich besser andere Lehrveranstaltungen. Wer sich jedoch auf das Abenteuer einließ, bekam nicht nur die Möglichkeit, Wissen zu erwerben und von präzisem Feedback zu lernen, sondern auch, in einen fundierten Dialog zu treten und zu bleiben.
Ich hatte das Glück, über Jahre hinweg mit Prof. Fliedl in Kontakt zu stehen, für eine Masterarbeit, deren Abschluss sich aufgrund beruflicher Verpflichtungen immer wieder verzögerte. Sie hat es mir nicht übelgenommen, sondern mir immer das Gefühl gegeben, willkommen zu sein. Dafür und für vieles mehr möchte ich mich bedanken: Für die tolle Unterstützung und die klugen Anmerkungen, für die vielen Anregungen und die große Geduld. Und nicht zuletzt für die Liebe zum Text, zum Theater und zur Wissenschaft, die wir miteinander teilen. Die Leerstelle, die Prof. Fliedl an der Universität Wien hinterlässt, wird nicht leicht zu füllen sein.
„Was für ein langer Satz. Bitte kurze Sätze, ja?“ Die Aussage von Hanna Hilsdorf auf der Burgtheater-Bühne hätte auch von Prof. Fliedl kommen können, etwas dezenter formuliert. Ich grinse und schaue auf den Platz neben mir. Vermutlich werde ich noch oft ins Burgtheater gehen. Und ich hoffe, dass eines Tages Prof. Fliedl neben mir sitzen wird.
Andrea Berger