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Schleier, mit Tixo geflickt

Universitätsbibliothek Graz

Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler: Poetik der Erinnerung. Wien, Köln u. Weimar: Böhlau 1997 (= Literatur und Geschichte, Literatur in der Geschichte 42).
Exemplar: Universitätsbibliothek Graz, Hauptbibliothek; Signatur I 474.518

Die auffälligste Markierung des passagenweise dicht unterstrichenen und annotierten Textes findet sich auf Seite 95, am Beginn des Kapitels zum Schleier der Beatrice. Auffällig darum, weil es sich um eine Markierung eigentlich nicht (mehr) handelt, sondern um eine Beschädigung, die aus der Entfernung einer Markierung resultierte, die sich wiederum dem – spät, aber doch – einsetzenden Verständnis dessen verdankt, was da eigentlich steht … aber der Reihe nach:
Der oder die Notator:in liest keineswegs das ganze Buch, sondern konzentriert sich, wie schon einer Anstreichung im Inhaltsverzeichnis zu entnehmen ist, auf einzelne Kapitel, darunter vor allem eben auf das auf Seite 95 beginnende zum Schleier der Beatrice. Dabei werden durchwegs nachvollziehbar die zentralen Stellen des Textes markiert. Allerdings wird langsam aber sicher das Manko spürbar, das sich aus der selektiven Lektüre ergibt: Hier, mit einem Rückstand von an die hundert Seiten, bemerkt der oder die Notator:in erst langsam und teilweise, worum es im Buch insgesamt wohl gehen mag – es hat etwas mit Erinnern und Vergessen zu tun, so viel steht fest … Doch im Lauf der weiteren Lektüre muss sich unserem bzw. unserer Notator:in ein weiterer Gedanke aufgedrängt haben: Ist nicht jede Unterstreichung, die er oder sie anbringt, Beleg für die eigene Vergesslichkeit? Dieser Verdacht wird umso schmerzlicher, als das im Text behandelte Drama Der Schleier der Beatrice von einem spezifischen Typus handelt, dem vergesslichen Helden – hier als Fin de Siècle-Neurastheniker dargestellt (bloß in die Renaissance versetzt) –, dessen Vergesslichkeit der bzw. die Leser:in nun auch an sich erkennen zu können meint. Der Tonfall des Textes wird dann nachgerade bedrohlich: „Ein Dichter, der seine eigenen Lieder vergißt, muß sterben“ – was droht erst jemandem, der bzw. die das Gelesene vergisst?

Abb. 1: Die Habilitationsschrift (1997) in der Universitätsbibliothek Graz, S. 95.

Abb. 2: Detail.

Nichts. Er oder sie ist wohl nicht die Ausnahme, schon eher die Regel, und aufgrund dieser Banalität wäre so eine Figur zur Figur gar nicht geeignet, geschweige denn zum literarischen Topos – den Schnitzler hier übrigens (wie man sich nach der Lektüre des Textes wohl erinnert) von Shakespeare übernommen hat.
Solche Überlegungen liegen dem bzw. der von uns beobachteten Notator:in allerdings fern, zu stark ist noch der Schock der vermeintlichen Selbsterkenntnis. Um so rasch als möglich dem eigenen Verdacht entgegenzutreten, wird nun Disziplin, Gedächtniskunst bewiesen (auch darum geht’s ja irgendwo in diesem Buch), und gleich die erste Unterstreichung im Kapitel – sie stand in den ersten Zeilen und galt den Entstehungsdaten und Werktiteln – wird gelöscht, aber erst, nachdem eben diese Daten und Titel (je zwei) mühevoll auswendig gelernt wurden. Der Triumph der Gedächtnisleistung befeuert dann beim Ausradieren, aber leider zu sehr: Das Papier reißt unter den energischen Strichen des Radiergummis, und in momentaner Hybris denkt der bzw. die Notator:in zweifellos: Macht nichts, das ist nun ohnehin in mein gusseisern’ Gedächtnis eingegraben. Doch in diesem Moment gelingt eben diesem Gehirn – wir wissen nicht, wie – blitzartig die Divination des gesamten nicht gelesenen Buchs. Der Überschwang weicht tiefstem Schrecken – nämlich (emphatisch:) die Überlieferung beschädigt und damit gegen die Verpflichtung zum historischen Gedächtnis verstoßen zu haben. Betroffen sieht der bzw. die Notator:in ein, wie eng eigentlich die Tätigkeit des Unterstreichens mit dem Inhalt des unterstrichenen Textes zusammenhängt, dass nämlich die Unterstreichung als Methode, Textstellen wieder auffindbar zu machen, die kulturelle Überlieferung zugänglicher macht, somit im Dienst der Erinnerung steht, somit das Ausradieren womöglich unnötig und der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht dienlich war …
In tiefem Schrecken werden die Schreibtischschubladen durchsucht, noch nicht genau wissend, wonach, doch gerät Klebestreifen in die Hände – und wird schnell, überhastet angebracht. Das ist vom bibliothekarisch-konservatorischen Standpunkt sicher der Tiefpunkt (bzw. die Höhe!) der ganzen Angelegenheit; uns allerdings erlaubt es, diesen Tixostreifen als Monument des Wechselspiels von Erinnern und Vergessen, Vergegenwärtigung und Neu-Schreibung des Vergangenen zu lesen – und für immer im Gedächtnis zu behalten.