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Michael Rohrwasser

KONSTANZE

Es gibt ein seltsames Versäumnis im akademischen Betrieb: Man trifft die Kolleginnen und Kollegen im Flur, im Arkadenhof und in Cafes, man debattiert in Institutskonferenzen und Kommissionen, tauscht sich aus über Forschungsprojekte und Projektanträge, man schickt sich mitunter auch eigene Aufsätze und Bücher, und natürlich geht man in der Regel auch zu den Vorträgen, die wir auf Konferenzen halten, und man unterhält sich darüber in den akademischen Vorhallen bei Wein und Häppchen. Vor allem wenn die Stunde der Antrittsvorlesung gekommen ist, sind wir alle versammelt und lauschen den Vorträgen über das Verhören oder über den Verlust der Mitte. Haben wir Fragen oder Bitten, wenden wir uns an die Kolleginnen und Kollegen, und selten wird das ignoriert. Von Ignoranz und Gleichgültigkeit kann nicht die Rede sein, oder: nur sehr selten. 

Gerade Konstanze gehörte zu denen, die mit handfester Hilfe reagierte, indem sie im Krisenfall die richtigen Telefonate führte, weit über die Uni-Kreise hinaus, und auf die erfolgversprechenden Wege verwies. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass eine deutsche Kollegin mit ihren Kindern nach der Katastrophe von Fukushima Japan verlassen hatte und in Wien gelandet war. Ich erzählte Konstanze von dem Dilemma der Kollegin, und innerhalb einer halben Stunde waren die Vizerektorin, der Dekan und einige andere Institute alarmiert, und die ersten Lösungen zeichneten sich ab. Konstanze und die Vizerektorin machten noch am selben Tag Nägel mit Köpfen. Wo andere schöne Reden hielten und sich solidarisch erklärten, war Konstanze die Frau der Tat. Auch mir hat sie mehr als einmal in Windeseile geholfen. 

Das Versäumnis ist ein anderes: Wir wissen nichts oder nur sehr wenig von den Lehrveranstaltungen der anderen. Es ist nicht üblich, sich zu besuchen und die Rolle des Lernenden einzunehmen, so spannend die Themen sein mögen. Sicher spielt auch Vorsicht eine Rolle, man ist diskret und fürchtet, dass die Anwesenheit als Kontrolle missverstanden wird. Ich habe eine ganze Reihe von gemeinsamen Veranstaltungen organisiert, leider nicht mit Konstanze. Und ich habe keine ihrer Vorlesungen besucht, sie nicht um Erlaubnis gebeten, als Gast in ihr Seminar kommen zu dürfen. Auch in meine Vorlesungen kamen so gut wie nie Besucherinnen und Besucher vom eigenen Institut, eher schon kamen Kollegen von anderen Ländern und Universitäten. Ich selbst habe lieber in anderen Fakultäten angeklopft, als im inner circle. Eine Ausnahme waren die Vorlesungen von Wendelin Schmidt-Dengler, aber das waren eher öffentliche Auftritte, die nicht nach einer Einladung verlangten. 

Natürlich dringen Erzählungen an unser Ohr, Anekdoten, Lob und Tadel, von Seiten der Studierenden – aber es gab keine Verifikation oder Falsifikation. Doch einmal, als eine junge Kollegin vorbeischaute und sah, dass ich meine Seminarstunde über Brechts abgründiges Gedicht Legende von der Entstehung des Buchs Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration vorbereitete, eilte sie weg und kam zurück mit einem umfangreichen Ordner, in dem die Materialien und die Mitschrift von Konstanzes Lyrik-Vorlesung (2013) versammelt war. Sie suchte die zwölf Seiten heraus, die Konstanze diesem Gedicht gewidmet hatte, und kommentierte knapp: „Sie ist mein Vorbild!“ Nun hatte ich meine Vorbereitung fast abgeschlossen, die Brecht-Literatur der letzten zwanzig Jahre durchgearbeitet, die wichtigsten Kommentare zur Kenntnis genommen, konnte Passagen des Gedichts auswendig und fühlte mich fast bereit – bis ich diese zwölf Seiten studierte. Was ich las, war zwar auch umsichtige basic, wie eine Vorlesung sie verlangt, aber darüber hinaus ein umwerfender innovativer Essay. Ich studierte dann fast den ganzen Ordner. Erst danach war ich wirklich vorbereitet. Und bedauere es bis heute, nicht Konstanzes Hörer gewesen zu sein, während der ganzen Vorlesung.