Stephan Müller
Als Du, liebe Konstanze, Dein Büro geräumt hast, oder, wie man vielleicht besser sagen sollte, der Pandemie freundlich den Rücken kehrtest (timing ist eine Kunst, die nur die Besten wirklich beherrschen), hast Du mir Schätze aus Deinem Bücherfundus überlassen.
Unvorsichtigerweise…
Es waren mittelalterliche Texte, die man im Studium liest – und als solche wurden sie auch gelesen. Im Nachwort fein und rot unterstrichen: Jahreszahlen, Orte, Personen, zentrale Begriffe. Der Text aber seiner Würde gemäß unangetastet und offensichtlich mit so großer Vorsicht wahrgenommen, dass die Rücken der Fischertaschenbücher die Jahrzehnte ungebrochen überdauern konnten. Das Schmuckstück dieser Sammlung ist eine Ausgabe von Hartmanns Erec, mit dem seit Jahrzehnten erfolgreich den Studierenden die Ältere Deutsche Literatur vermiest wird. Ein Besitzeintrag sagt uns, dass Du hingegen das Werk vier Jahrzehnte in Ehren hieltest!
Wobei die Monatsangabe erste Rätsel aufgibt. Fingen die Semester zu anderen Zeiten an? Im Dezember? Dauerte es von Semesterbeginn bis Bucherwerb zwei Monate … immerhin als Zeichen entstehender Begeisterung? Oder bereitete sich da jemand im Dezember schon auf das Mittelalterseminar im Sommer vor? Ich denke doch Letzteres!
Mehr Rätsel stecken indes in einem zweiten Eintrag auf der gegenüberliegenden Seite (also folio 1 verso):
In leichtfüßiger Nachlässigkeit, den biederen Erwartungen an Waagerechtigkeit trotzend, ist dort ein Katzentier eingeklebt. Dies mit erhobener rechter Hinterpfote. Was sehen wir hier? Schließen wir forsch die Annahme aus, dass es sich um einen völkischen Gruß handeln könnte – für den ja der Einsatz der Vorderpfote anzunehmen wäre –, bleiben drei Thesen:
- Eifrig und doch charmant meldet sich das Tier zu Wort. Ikonisch nimmt das Bild eine rege, aber nicht aufdringliche Partizipation am zu erwartenden Seminargeschehen voraus. Nicht besserwisserisch, nein, kollegial freundlich sollen die Einlassungen werden …
- Angenehm angerührt lauscht das Tier Worten, die aus der Ferne – hier wohl aus der Ferne des Mittelalters – an sein Ohr dringen. Entspannte Offenheit für Neues, nicht ohne eine hermeneutische Großherzigkeit zu signalisieren, die einen wissen lassen: In fruchtbareren Boden werden Worte selten gesät ….
- Oder aber: Das Tier winkt ab, unbeeindruckt von der literarischen Gewalt des Epos mit einer Geste ‚Ach geh…‘. So muss es sein, denn besser kann man Hartmanns Text nicht verstehen und kritisch kommentieren.
Unterschrieben ist das Tier mit einem Namen: Conny F. – doch wer ist Conny F.? Ist das der Name des Tieres? Nein, der handschriftliche Besitzeintrag bringt uns ja die Lösung:
Conny F. korrespondiert mit
C. Fliedl. auf folio 2 recto
In spartanischer Informationsverknappung und unter rigider Einsparung von Buchstaben wird hier komplementär formuliert. Gemein sind den Einträgen nur zwei Buchstaben: C und F und trotzdem leuchtet der Glanz der Identität! Hier waltet ein Genius, der, minimal mit C und F verbunden, dasselbe und doch so markant verschieden zu formulieren versteht. Lässig wird dabei der medientechnische Kosmos zwischen Handschrift und Druck ausgeschritten. So auch die pragmatische Palette von privater exlibröser Selbstzueignung bis zur exakt gelehrten Erfassung des Studiengegenstandes. Und das in der medienanthropologischen Paradoxie, dass das Private gedruckt und das Gelehrte handschriftlich uns gegenübersteht. Hier macht sich jemand auf den Weg der Verkehrung, soll doch noch so viel gelehrt Gedrucktes folgen und die Handschrift ein Rückzugsort ins Private werden. Und das Ensemble ist im Gestus philologischer Genauigkeit gestaltet, der seinesgleichen sucht:
Dem F folgt ein Punkt, wie auch dem C einer folgt – das Unvollständige wird als solches unbarmherzig ausgestellt, wie man auch dem Dez nicht einfach ausgeliefert wird. Mit der Finesse der zukünftigen Herausgeberin kompliziertester Texte verbietet der Punkt auch hier (sicherheitshalber! Nie kann man wissen …) ein falsches Verstehen und unlautere Spekulation. Und der Apostroph! Hier wird eine 19 nicht einfach verschluckt, nein, keine Kompromisse. Gnadenlos findet auch das Ungesagte seine Zeichen. Gern mag man verkürzen und verknappen – doch nie wird der Leser allein gelassen und dabei mit freundlichster Deutlichkeit auf das richtige Verständnis hingewiesen sowie höflich durch den Text geleitet.
Der Höhepunkt jedoch am Schluss. Man spürt ihn, den philologischen Eros des Schlusspunkts hinter der 80; mit Scham muss ich gestehen, dass mir dieser spektakuläre Gedanke nie gekommen wäre, sodass er mich umso mehr besticht: Jede sprachliche Äußerung hat ihr Ende – und ohne Punkt kein solches! Dies auch, wenn in elliptischer Eleganz nur Namen und Daten verfugt sind. Erst der Punkt macht daraus einen Text, erst er macht die Teile zum Ganzen.
Das Mittelalter konnte Dich nicht gewinnen, liebe Konstanze, aber Du hast es erobert. Dein Erec wird mich in Ehren begleiten und an Dich erinnern. Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute, Gesundheit vor allem und hoffe, dass Du noch lange die Pfote erheben wirst –
Baba Conny F.
Dein Stephan